Publiziert 31. März 2023, 06:00
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#WintiischLiebi

«Der Mensch steht im Vordergrund, nicht das Delikt»

Das Gefängnis ist ihr zweites Zuhause: Karin Eggli leitet seit 2017 das Untersuchungsgefängnis in Winterthur. Wir haben sie im Rahmen der Serie #WintiischLiebi hinter geschlossenen Türen besucht.

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Ramona Kobe
Seit über 30 Jahren ist das Gefängnis das zweite Zuhause von Karin Eggli. Respektlos behandelt wurde sie von der männlichen Insassen in all den Jahren nie.

Seit über 30 Jahren ist das Gefängnis das zweite Zuhause von Karin Eggli. Respektlos behandelt wurde sie von der männlichen Insassen in all den Jahren nie.
Ramona Kobe

Seit fast 30 Jahren ist Karin Eggli in der Zürcher Justiz tätig. Begonnen hat sie in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies in Regensdorf von 1995 bis 2009. Bis 2017 war sie anschliessend stellvertretende Leiterin des Gefängnis Limmattal. Seit über fünf Jahren leitet sie nun das Untersuchungsgefängnis in Winterthur mit 52 Plätzen. Angst hatte Eggli in all den Jahren nicht, «aber man darf nie vergessen, wo man arbeitet».  Auch respektlos behandelt wurde sie von den männlichen Insassen nie. Das hat mit der Art ihres Auftretens zu tun, wie sie gegenüber 84XO erzählt.

Frau Eggli, wie muss man sich den Berufsalltag einer Gefängnisleiterin vorstellen?

Karin Eggli:  Das ist das Schöne an meinem Beruf: Man weiss nie genau, was einen am Morgen erwartet. Klar habe ich einen Stellenbeschrieb. Ich habe die Verantwortung über Ordnung und Sicherheit im Gefängnis, über das Personal und die Insassen. Aber im Grunde arbeite ich einfach mit Menschen. Einer ist gut gelaunt, der andere schlecht. So ist jeder Tag ein bisschen anders.

Sie sind mittlerweile seit fast 30 Jahren in der Zürcher Justiz tätig. Ursprünglich kommen Sie aus dem Gastgewerbe, also einer ganz anderen Branche.

Das finde ich nicht – wenn man es ganz pragmatisch betrachtet. Ich habe Hotelfachassistentin gelernt. Viele Menschen vergleichen das Gefängnis mit einem Hotel. Es gibt tatsächlich gewisse Parallelen. Wir haben Eintritte und Austritte. Wir müssen die Insassen verpflegen und schauen, dass sie gesund bleiben.

Und wieso haben Sie sich nach Ihrer Lehre für diese Art von «Hotel» entschieden?

Das passierte zufällig. Ich wurde mit 23 Mutter, heute ist das relativ früh. Ich wusste, dass das Gastgewerbe aufgrund der Arbeitszeiten nicht einfach ist mit Kindern, zumal auch mein Mann aus der Branche war. Ich habe während meiner Zeit als Mutter und Hausfrau noch das Bürofachdiplom gemacht. Der Mann einer Freundin arbeitete in der Pöschwies, wo sie eine Sachbearbeiterin in Teilzeit suchten. Auf diese Stelle bewarb ich mich. Was ich gerne erzähle: Ich hatte keine Ahnung vom Gefängnis. Ich dachte, ich schaue einfach vorbei, dann sehe ich mal ein Gefängnis. Und jetzt bin immer noch da.

Was reizt Sie an Ihrem Beruf?

Es ist der Mensch, der mich fasziniert. Egal, welche Farbe oder welches Geschlecht. Das ist mir Wurst. In der Pöschwies sind alle Insassen verurteilt. Hier in der Untersuchungshaft habe ich sie praktisch frisch ab der Strasse. Ich lese, was in der Zeitung steht, lese, was der Staatsanwalt schreibt. Und dann lerne ich den Menschen kennen. Das finde ich spannend. Was sie gemacht haben, ist mir eigentlich egal. Es gilt die Unschuldsvermutung. Ich will zwar grob wissen, weshalb sie hier sind. Aber am Ende des Tages bekomme ich einen Menschen. Das macht es aus.

Gibt es auch Herausforderungen?

Es gibt viele kleine Herausforderungen. Manchmal ist es das Personal, manchmal die Insassen. Oder beide miteinander. Dann den Überblick zu behalten in Krisensituationen und ruhig zu bleiben, ist eine grosse Herausforderung. Insbesondere dann, wenn ich noch von Rechtsanwälten angegangen werde, die mich oder mein Personal verklagen wollen. Es braucht Disziplin, um diesen nicht alle «Schlötterlig» anzuhängen.

Kommt das oft vor?

Ab und zu. Auch Insassen wollten mich oder andere Mitarbeitende schon verklagen. Das gibt es halt auch.

Da braucht es aber schon eine dicke Haut…

Schon. Aber wir wissen ja, dass wir nichts falsch gemacht haben. Dann prallt das ab. Wir werden vom Amt gut unterstützt, erhalten Ratschläge und wenn nötig einen Anwalt.

Wie gehen Sie mit den Insassen um?

Wir sind mit den Nachnamen und der Funktion angeschrieben. So wissen die Insassen, wer wir sind. Wir sind per Sie und sprechen sie beim Nachnamen an. Können wir einen Namen nicht aussprechen, fragen wir. Hier in Winterthur haben wir den Ruf, sehr wertschätzend zu sein. Der Mensch steht im Vordergrund, nicht das Delikt. Wir sind weder Staat noch Polizei oder Richter. Wir sind die «Beherberger». Wenn sich jemand nicht an unsere Hausregeln hält, wird er «diszipliniert». Aber bei allem anderen bin ich froh, muss nicht ich urteilen ob schuldig oder unschuldig. Das wissen die Insassen, und ich glaube, das ist auch unser Schutz.

Wie meinen Sie das?

Wir arbeiten den ganzen Tag mit den Insassen. Da kommt deren Persönlichkeit hervor. Die Justitia hat eine Augenbinde und eine Waage. Das ist auch richtig so. Sie muss nur die Sachlage und die Fakten beurteilen. Ich habe den Menschen. Wenn man die Fakten liest, kann es einem schon schlecht werden. Wir haben hier in der U-Haft alle Arten von Delikten; vom Kindesmissbrauch bis zur Tötung. Doch der Insasse ist, solange er in Untersuchungshaft ist, immer noch in der Unschuldsvermutung. Wenn man den ganzen Tag mit diesen Menschen zu tun hat, fragt man sich manchmal einfach, warum diese Personen in eine solche Situation kommen.

Karin Eggli

«Wenn man den ganzen Tag mit diesen Menschen zu tun hat, fragt man sich manchmal einfach, warum diese Personen in eine solche Situation kommen»

Sprechen Sie mit den Inhaftierten über die Delikte?

Es gibt Insassen, die das wollen. Ich spreche das Thema aber nie aktiv an. Sie müssen auf uns Mitarbeitenden zukommen.

Sie arbeiten in einem reinen Männergefängnis. Wurden Sie aufgrund Ihres Geschlechts schon respektlos behandelt?

Nein, noch nie. Ich glaube, das liegt daran, dass die Insassen wissen, dass sie anständig bleiben müssen, wenn sie etwas von mir wollen. In Gespräche gehen wir immer als Paar, gemeinsam mit einem Mann. Es gibt solche, die reden mit mir, schauen mich dabei aber einfach nicht an. Damit kann ich leben.

Hatten Sie jemals Angst?

Nein. In meinen bald 30 Jahren fühlte ich mich noch nie bedroht. Ich habe die Möglichkeit, mich per PSS bemerkbar zu machen. Auch in der Pöschwies hatte ich nie Angst. Was man haben muss, ist Respekt. Man darf sich nicht zu wohl sein und muss immer wissen, wo man ist. Auch die Art und Weise, wie man auftritt, ist wichtig.

Wie treten Sie auf?

Normal. Ich sage mir und meinen Mitarbeitenden immer: Nehmt die Insassen ernst. Für uns mag ein Problem banal sein. Für die Inhaftierten kann es aber sehr wichtig sein, dass sie ihr Schoggistängeli am Kiosk kaufen können. Menschlichkeit ist das A und O. Ein Insasse weinte einst, weil er einen schlimmen Traum hatte und überzeugt war, dass es seiner Frau nicht gut ging. Also rief ich sie an und fragte nach, ob alles in Ordnung sei. Das war eine Sache von zwei Minuten, dafür war der Mann danach zufrieden und beruhigt. Man muss die Menschenwürde behalten. Das schreiben wir uns hier in Winterthur auf die Fahne.

Wie viel geben Sie von sich aus Preis?

Nicht viel.

Als Schutz?

Nein, es geht sie schlichtweg nichts an. Ich mache ein Beispiel. Die Insassen wissen immer, wann ich in den Ferien bin. Wenn sie mich danach fragen, weiche ich aus und teile ihnen mit, dass ich im Süden oder am Meer war. Dann merken sie, dass ich nichts sagen möchte. Ich spüre, wenn ich jemandem ein Detail mehr erzählen oder auch mal einen Scherz machen kann. Diese Gabe habe ich aus dem Gastgewerbe mitgenommen.