Publiziert 23. Feb. 2023, 10:29
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Kommentar

«Flasche leer»

Gestern verkündete Stadtrat Jürg Altwegg seinen Rücktritt. Nicht nur der Zeitpunkt, sondern insbesondere auch die Gründe für den Entscheid überraschen 84XO-Redaktor George Stutz.

G
George Stutz
Für 84XO-Redaktor George Stutz kam der Rücktritt Altweggs überraschend.

Für 84XO-Redaktor George Stutz kam der Rücktritt Altweggs überraschend.
Fotomontage: zvg / rk

Hätte man sich überlegen müssen, welcher Winterthurer Stadtrat – zumindest von aussen betrachtet – «dä Überarbeitischti» sein könnte, man wäre wohl nie auf Jürg Altwegg gekommen. Dahingehend wurden auch aus Parlamentskreisen immer wieder mal Seitenhiebe gegen den Schul- und Sportstadtrat ausgeteilt, er schiebe doch eher eine ruhige Kugel. So gesehen dürfte nicht nur sein Rücktrittszeitpunkt, sondern sein Rücktrittsgrund manch einen etwas überraschen.

Sicher mögen die gewonnenen Abstimmungen betreffs Schulbehörden-Reform und Schulsozialarbeit, die Integration der ukrainischen Flüchtlingskinder oder der im Vergleich zur Stadt Zürich doch übersehbare Winterthurer Lehrermangel gezehrt haben. Diese aus seiner Sicht positiven Punkten seiner gut fünfjährigen Amtszeit erwähnte Altwegg vor versammelter Presse gestern denn auch vorneweg. Und doch: Wird er spätestens am 31. Juli dieses Jahres sein Pültli geräumt haben, wird er kaum als Überstadtrat in Erinnerung bleiben. Oder anders gesagt, spätestens dann dürfte man ihn auch schon wieder vergessen haben.

Wie er an der Medienkonferenz erst auf Anfrage hin erwähnte, stehen den obengenannten – je nach Sichtweise – Pluspunkten seiner Amtszeit auch mindestens so viele fragwürdige Entscheide oder eben Nichtentscheide gegenüber. Etwa im Bereich der Schulraum- und Schulhauspolitik.

Fakt ist, vor allem der Schulbereich dürfte bei Altwegg zu einer zunehmenden Leere geführt haben. Trainerlegende Giovanni Trapattoni umschrieb diesen energielosen Zustand einst mit «Flasche leer».

Womit wir bei Altweggs zweiter Amtssparte wären, dem Sport. In den Stadien war der Sportstadtrat – zumindest aus Sicht des Schreiberlings – sehr selten anzutreffen. Und wenn, dann zum Apéro. Etwa, als der Stadtrat letzten Sommer die Medienleute zum Jahrestreffen auf die «Schützi» einlud, oder als an selber Stätte der neu eingebaute Rasen eingeweiht wurde. Wenn in der Medienmitteilung zum Rücktritt zudem auf Altweggs Engagement pro Super-League-taugliches Stadion hingewiesen wird, so darf auch an die ärgerliche Never-Ending-Story im Zusammenhang mit der Rasenersetzung erinnert werden.

Fazit: Altweggs Plus- und Minuspunkte halten sich durch die Amtszeit hindurch in etwa die Waage. Die Frage bleibt, weshalb er nicht bereits vor der Gesamterneuerungswahl des Stadtrates vor einem Jahr demissioniert hatte, zumal sich sein Akku bereits da ziemlich entleert hatte. Seine gestrige Aussage, er wäre schon da nicht mehr zu 100 Prozent hinter der Fortsetzung seiner Amtszeit gestanden, ist selbstredend. Oder hatte ihn seine Partei mit dazu gedrängt, noch etwas Zeit zu scheffeln, um für seine Nachfolgewahl einen valablen Kandidaten oder eine Kandidatin aufbauen zu können?

«Egal» mögen die einen sagen, Hauptsache Altwegg ist bald weg, «gefährlich» mögen die anderen sagen, die sich zurecht fürchten müssen, dass die Grünen nun auch im Winterthurer Stadtrat einen Sitz verlieren könnten. Spätestens wenn sich der Stadtrat in seiner neuen Zusammensetzung präsentieren wird, dürfte Jürg Altwegg auf seinem neuen Sitz auf Europareise sein. Auf dem Fahrer- oder Beifahrersitz seines dieselbetriebenen Wohnmobils wird der einst grüne Stadtrat seine Hochs und Tiefs seiner kurzen Amtszeit hinter sich lassen und die Batterien für ein neues, mit ziemlicher Sicherheit nichtpolitisches Abenteuer, wieder laden. Man mag es ihm gönnen.