Kolumne
Vergessen und vergeben?
Glaubenskolumne von Pfarrerin Monika Wilhelm

Monika Wilhelm ist Pfarrerin und Co-Leiterin von Orbit.
zvg
«Ich wollte, dass sie denselben Schmerz spüren, den ich spürte.» – «Er sagte: Irgendwie wäre ich froh, wenn es wieder gut wäre zwischen uns.» – «Wenn ich nur daran dachte, meinen Eltern zu vergeben, zog sich mein Magen zusammen und ich musste mich übergeben.» Diese Zitate sind im Moment auf dem Kirchplatz zu lesen. Auf grossen Bildern, die zu diesen starken Sätzen gehören.
Ich scanne den QR-Code auf einem der Bilder und höre die Geschichte eines Mannes. Er wurde als Jugendlicher in seiner Schule gemobbt, so dass er nicht mehr zur Schule gehen konnte. Jahre später trifft er eine der Täterinnen wieder und versöhnt sich mit ihr.
«Broken, but …» heisst die Ausstellung. Hier teilen Menschen ihre Geschichten von zerbrochenen Beziehungen («broken») und ihren Schritten, die sie wieder aufeinander zu gemacht haben («but»).
Die Geschichten bewegen mich. Sie sind mitten in Winterthur: Menschen sind bereit, von schwierigen Stunden ihres Lebens zu erzählen – und davon, wie sie Wege gefunden haben, dort nicht steckenzubleiben.
Neben den Geschichten entdecke ich einen silbrigen Container. Ich gehe rein. Und merke: hier wird’s persönlich. Ich soll mich mit meinen eigenen Geschichten auseinandersetzen. Jetzt? Will ich das? Ich gehe lieber wieder raus aus dem Container und höre mir fremde Geschichten an.
So einfach ist das aber nicht. «Du willst dich versöhnen, weisst aber nicht mit wem?», steht aussen am Container. Die Frage irritiert mich: Wenn ich nicht weiss mit wem, ist da wohl nichts zum Versöhnen – oder? Zugleich weckt die Frage den Gedanken, dass vielleicht doch etwas verborgen sein könnte. Statt zu murren, lasse ich mich auf den Versuch ein: Ich nehme eine Platte mit Fragen in die Hand setze mich in Bewegung.
«Gibt es eine Aussage oder eine Handlung eines Menschen, die dir noch immer nahe geht?» Im Gehen kommen mir nach und nach Situationen in den Sinn: die Studentin, die mich angelogen hat; der Kollege, der sich auf meine Kosten aus der Verantwortung stiehlt; der Freund, der unendlich neugierig ist und mit seinem Wissen dann weniger zurückhaltend umgeht, als ich es mir wünschte. In einer zweiten Runde kommen mir Situationen in den Sinn, in denen eine Handlung von mir selbst negativ nachschwingt: der Kollege, dem ich ziemlich direkt sagte: «Du interessierst mich nicht»; die Freundin, die ich unsensibel angefahren habe, weil ich keine Nerven hatte für ihr Problem; die Studentin, auf die ich mich stärker hätte einlassen sollen.
Alles keine dramatischen Geschichten, die mir schlaflose Nächte bereiten. Alles nichts, um eine Beziehung zu beenden. Und doch alles kleine Verletzungen, nicht komplett vergessen, teils Jahre später.
Die Ausstellung regt an, nicht einfach zu vergessen, sondern zu reflektieren, das Gespräch zu suchen, Schritte aufeinander zuzugehen und offen zu sein – obwohl ein Bruch da ist. «Broken, but …»
Falls auch Sie sich inspirieren lassen wollen, können Sie das bis kommenden Sonntag, 21. Mai, auf dem Kirchplatz tun.